Der Untergang

Der in den Bootsrumpf eindringende Torpedo wirkte auf Lærke wie eine Injektion mit Adrenalin. Sie zitterte am ganzen Leib, während sie sich das Nachthemd abstreifte und in Hose, Pullover und Stiefel schlüpfte. Kaum hatte sie den Südwester übergestreift, flog die Kabinentür auf, und Alexander stand vor ihr. Er hatte sein weißes Jackett gegen die Uniformjacke eines Offiziers getauscht. »Fertig ?« »Fast.« Sie stellte die Kombination ein und öffnete den Tresor. Die Mappe mit den Unterlagen und die kleine Schachtel mit den Proben lagen im obersten Fach. Sie verstaute alles in einem Rucksack und warf die Tür des Safes wieder zu. »Ich bin so weit.« Alexander winkte sie zu sich. »Etwas ist schiefgelaufen. Das Schiff krängt stark nach Steuerbord. Es scheint über den Bug zu sinken. Das war nicht geplant.« »Was meinen Sie? Was wird dann aus Thomas?« »Der wird es schaffen, das Schiff ist nach den neuesten Standards gebaut. Die haben aus dem Untergang der Titanic gelernt. Ihm wird nichts passieren.«   Alexander packte sie unsanft am Oberarm. »Aua, Sie tun mir weh.« »Entschuldigen Sie, aber wir müssen jetzt los.« Die Zeit läuft uns davon.« Sie rannten die Backboard-Promenade entlang bis zum Treppenabgang der dritten Klasse. Lærke blickte sich immer wieder um, in der Hoffnung Thomas vielleicht doch noch zu sehen. »Oh mein Gott, Alexander. Schauen Sie. Die Wellen schwappen bereits über den Bug.« »Das kann doch nicht das Werk eines einzigen Torpedos sein.« Dann blieb er abrupt stehen. Ihnen quoll ein unablässiger Strom von Menschen entgegen, begleitet von den markerschütternden Schreien der Alten, Frauen und Kinder, die bei lebendigem Leib zu Tode getrampelt wurden. Hier war kein Durchkommen. »Hier lang.« Alexander ergriff ihre Hand, machte eine Kehrtwendung, und sie liefen, so schnell es ging, die Außentreppe zum D-Deck hinunter, zum E- und weiter zum F-Deck. Als sie die letzten Stufen springend überwanden, landeten sie in knöcheltiefem eisigem Wasser. »Mein Gott ist das kalt.« Es fühlte sich an, als würden tausend Nadeln durch das Leder ihrer Schuhe dringen. »Weiter! Wir müssen zum Heck.« Sie wateten gegen die Fließrichtung durch eine kalte Brühe aus Öl, Mobiliar und Trümmern, als sich ihnen ein erschütterndes Bild bot. Dort wo sich zuvor Kabinen befunden hatten, waren durch die Explosion der vorderen Kessel die Räume und mit ihnen ihre Bewohner einfach weggefegt worden. Wo vorher Menschen geschlafen und gelebt hatten, brodelte nun eindringendes Meerwasser wie in einem riesigen Kochtopf. »Wir müssen wieder hoch«, rief Alexander. Sie hasteten die Treppe hinauf. Obwohl Alexander heftig an ihrer Hand zerrte, verspürte sie keinen Schmerz. Der war der blanken Angst gewichen. Sie schafften es gerade zwei Etagen höher, als ein hysterisch schreiender Mann ihre Aufmerksamkeit erregte. Der Kerl versuchte, einer Frau und ihrem kleinen Jungen die Rettungswesten zu entreißen. Ohne zu zögern, schlug Alexander ihm mit der Handkante in den Nacken. Der Mann sackte zu Boden. Alexander bückte sich, half der Frau auf und gab dem völlig verschreckten Kind die Schwimmweste zurück. Lærke streichelte dem weinenden Jungen, der kaum älter als vier Jahre sein konnte, beruhigend über den Kopf. »Bring deine Mama in Sicherheit. Da lang!« Er schien sie nicht zu verstehen, und die Mutter, in völliger Panik, schnappte sich ihren Sohn und lief mit ihm in die entgegengesetzte Richtung. »Nein. Das ist falsch.« Lærke riss sich von Alexander los und rannte hinter den beiden her. Als sie um die Ecke bog, stoppte sie abrupt. Wo sie die zwei erwartet hatte, schoss eine breite Wasserwand durch den weiträumigen Treppenaufgang auf sie zu. Sie wurde herumgerissen. Alexander hatte sie eingeholt und zerrte sie nun noch unsanfter als zuvor hinter sich her. Sie gab jeden Widerstand auf. Jetzt ging es nur noch um das nackte Überleben. Sie dachte nicht einmal mehr an Thomas. Dafür würde sie die verheulten Augen des Jungen niemals in ihrem Leben vergessen.   Wenige Minuten später erreichten die beiden das Heck der Lusitania. Bis auf einen Mann, der vor einer Kiste neben den Ankerwinden ein Schlauchboot auffaltete, war das Achterdeck menschenleer. Wer war das? Sie sah Alexander an, der ihr signalisierte weiterzugehen. Als sie wieder nach vorn blickte, wirbelte der Mann herum und zielte mit einem Revolver auf sie. Sie warf die Hände vor das Gesicht. Der Schuss wurde übertönt von dem lauten Zischen der Druckventile, aus denen der Dampf aus den Kesseln strömte. Hinter sich vernahm sie einen dumpfen Aufschlag. Als sie die Augen öffnete und sich umdrehte, sah sie, wie Alexander dem toten Körper eines jungen Matrosen unter die Achseln fasste und ihn zur Reling zerrte. Sie selbst war wie erstarrt, ihre Füße gehorchten ihr nicht mehr. »Alles in Ordnung, Madam? Ich bin Curt Thorn, ein Kamerad von Alexander. Ich werde Ihnen jetzt helfen, von Bord zu gelangen.« Sie verstand ihn kaum, so laut pochte das Blut in ihren Schläfen. Ihr Mund fühlte sich trocken an, und sie konnte ihm nicht antworten. Anstatt ihr die Hand zu reichen, wie es sich unter anderen Umständen geziemt hätte, zog er das Gummiboot zum Heck und befestigte ein Seil an der Backbordankerkette. Das andere Ende band er am Boot fest. Dann wuchtete er es über die Reling. Er winkte sie herbei und half ihr hinein. Sie ruderte wild mit den Armen bei dem Versuch, auf dem schaukelnden Untergrund Halt zu finden. »Hinlegen!«, herrschte Curt sie an. Alexander kam herbeigeeilt und stieg über die Querstreben der Reling. Curt lief zurück zur Winde und ließ sie an der Ankerkette hinab. Alexander startete den Außenborder und löste die Halteseile. Er sah hinauf und deutete einen militärischen Gruß an. Dann verschwanden sie in der sanften Dünung Richtung Osten.

Die Kiste

Die Kiste

Eine Stunde später, Erich hatte sich inzwischen ein Gewehr aus einem Stück Treibholz geschnitzt, herrschte gespenstische Stille am Strand. Nur hier und da lugten ein paar Mutige zwischen dem Strandhafer über eine Düne hinweg. Selbst die Möwen, deren Fressgier sie normalerweise zu den waghalsigsten Manövern verleitete, waren nicht mehr in Sichtweite. Doch der Mann stand unbeirrt wie ein Fels in der Brandung wogender Weltgeschichte.   Erich sah hinüber zu dem Kommandanten des U-Bootes, der zusammen mit einem nervös dreinblickenden Matrosen zwei schwere Holzkisten auf eine Barkasse lud. Was konnte da wohl drin sein, wenn selbst ein Offizier sich für diese Aufgabe nicht zu schade war? Plötzlich knallte es wie Schüsse aus Gewehrläufen. Erich drückte sein Gesicht in den Sand. Nichts passierte. Er hob den Kopf und sah wieder hinüber zu dem Boot. Falscher Alarm. Es waren Fehlzündungen des Barkassenmotors gewesen. Der Motor soff ab, und das Boot driftete mit der Strömung nach Norden. Hektische Rufe ertönten. Der Kapitän und seine Männer paddelten mit den Händen und eilig herausgerissenen Planken, um den Abstand zwischen sich und dem U-Boot zu vergrößern. Einen kläglichen Anblick bot die kaiserliche Kriegsmarine da, als U-20 einem gestrandeten Wal gleich mit jeder Welle tiefer in den Sand eingegraben wurde.   Der Fotograf hielt den Finger auf dem Auslöser. Minute um Minute verstrich. »Warten, warten, warten«, flüsterte Erich immer wieder vor sich hin. Er fühlte sich wie ein Soldat im Schützengraben, auf den die feindlichen Truppen mit lautem Hurrageschrei zustürmten. »Bum!« Ein ohrenbetäubender Knall zerriss die Stille, ein Feuerball stieg senkrecht in die Luft, und schwarzer Rauch wurde trichterförmig in alle Richtungen geschleudert. Noch ehe er den Auslöser betätigen konnte, erfasste den Fotografen die Druckwelle und katapultierte ihn zusammen mit Kamera und Stativ nach hinten, vom Dünenkamm hinunter. Splitter waren wie Schrapnellgeschosse in die Dünen eingeschlagen, hatten die Linse der Kamera getroffen und zerstört.   Glück gehabt, Kamerad, dachte Erich und sah sich um. Metallplatten von der Größe eines Esszimmertisches waren bis zu hundert Meter weit geschleudert worden und nur wenige Meter entfernt in den Sand eingeschlagen. Langsam erhoben sich die Menschen um ihn herum aus dem Sand. Einige standen so sehr unter Schock, dass sie ihre Körper nach Verletzungen abtasteten. Erich sprang auf. »Bäng, endlich ist hier mal was los!« In großen Sprüngen strebte er dem Strand entgegen. Als er an dem Fotografen vorbeikam, blieb er kurz stehen und schaute auf das Blut, das in den Sand tropfte. »Kann ich Ihnen helfen, mein Herr?«  fragte er. »Nein, nein danke«, antwortete der geistesabwesend. »Es geht schon.« Das Ausmaß der Zerstörung war gewaltig. Einige hundert Meter entfernt dümpelte die durch die Wucht der Explosion gekenterte Barkasse in der Brandung. Der Kommandant schleppte sich mit hängendem Haupt in Richtung Ufer. »Wir haben die Deutschen kalt gemacht«, rief Erich. »Schnappt euch die Beute!« Zielstrebig steuerte er auf eine Kiste zu, wuchtete sie hoch und gab Fersengeld.

U 20

Walther Schweers, Kommandant des Unterseebootes U-20, schaute durch das Seerohr und maß die Distanz zu dem Passagierdampfer, der erst vor wenigen Minuten beigedreht war und nun genau auf sie zulief. »Jetzt hab ich dich. Rohr eins los.« »Käpt’n, das ist ein ziviles Passagierschiff. Ich kann kein Schiff mit Frauen und Kindern an Bord angreifen!« »Verdammt, los, Vögele!« Karl Vögele stand wie erstarrt und leitete den Befehl nicht an den Torpedoraum weiter. Nach kurzem Zögern stieß Schweers den Mann beiseite und brüllte den Befehl selbst ins Rohr. »Torpedo läuft.« Oberleutnant Scheffler nahm die Stoppuhr und begann zu zählen. Eins, zwei, drei Sekunden …« »Das  wird Konsequenzen haben, Mann«, herrschte Schweers Vögele an und trat wieder an das Periskop. Als Scheffler bei neununddreißig angekommen war, sah er den Torpedo kurz hinter der Brücke detonieren. Ein leichtes Zittern ging durch das Boot. »Treffer!« Die Mannschaft brach in Jubel aus. Einige warfen ihre Mützen in die Luft und stimmten Hurragesang an. Währenddessen erfolgte eine zweite, viel heftigere Detonation. Schweers konnte gerade eben das Gleichgewicht halten, während selbst bei einer Entfernung von siebenhundert Metern zum Explosionsherd seine Männer durcheinandergewirbelt wurden, Rohrleitungen brachen und herumfliegendes Inventar nur knapp seinen Kopf verfehlte. »Schadensmeldung!« »Wir sind getroffen!« »Schnauze halten! Ruhe!« Kommandant Schweers blickte erneut durch das Periskop und sah eine gewaltige Dampfwolke in den Himmel steigen. »Verdammt, was ist da los? Ruder hart Backbord, beide Maschinen voraus, halbe Fahrt. Wir bleiben auf Seerohrtiefe. Bringen Sie mich eine halbe Meile hinter die Lusitania. Scheffler, übernehmen Sie.« »Wollen wir die Schiffbrüchigen an Bord nehmen?« »Nein.« Ohne einen weiteren Kommentar verschwand der Kommandant in Richtung Funkraum.

IRISCHE SEE, 7. MAI 1915

Lærke hatte bereits beim Lunch davon gehört. Der Schiffsdetektiv William Pierpont nahm kurz nach der Abfahrt drei blinde Passagiere fest. Man munkelte, sie seien deutsche Spione. Da sie sich weigerten, nähere Auskünfte zu erteilen, sperrte man sie in eine Kabine in den unteren Decks. Das sprach sich herum, und die Gefahr schien nunmehr nicht nur in der dunklen See zu lauern, sondern auch unter den Passagieren an Bord. Angst und Verunsicherung wuchsen. Besonders bei Lærke selbst. Sie war Alexander zwar einige Male begegnet, doch der schien sie überhaupt nicht zu sehen, geschweige denn mit ihr reden zu wollen. Sie hatte nicht die geringste Ahnung, wann und wie man sie und die Dokumente von Bord schaffen würde. Thomas, der sonst nicht von Lærkes Seite wich, betrat den Smoking Room und setzte sich an einen freien Tisch. »Mr Bennet, Sir. Darf ich Ihnen etwas bringen?« »Alexander, schön Sie zu sehen. Ja, ich möchte einen Scotch.« »Gern. Mit Soda?« »Ja bitte. Noch eins, meine Gattin fühlt sich nicht wohl. Könnten Sie ihr bitte einen Tee und ein wenig Zwieback aufs Zimmer bringen? Danke.« »Selbstverständlich, Sir. Ich hoffe, es ist nichts Ernstes.« »Nein, nur eine kleine Magenverstimmung.« »Ich werde mich persönlich darum kümmern, Sir.« Alexander mixte Thomas einen Uam Var mit Soda und Eis. Nach einem Umweg über die Küche stand er nun mit dem Teewagen vor der Kabinentür der Bennets. Er klopfte zweimal an die Tür. »Ihr Tee, Madam!« Unter Tausenden würde Lærke diesen Bariton mit dem näselnden britischen Akzent wiedererkennen. Sie warf sich einen Morgenmantel über und öffnete die Tür einen Spalt. Alexander schob sich hindurch. »Geht es Ihnen gut, Mrs Bennet?« »Ob es mir gut geht? Ich warte seit Tagen auf eine Nachricht von Ihnen.« »Sie haben bestimmt von der Festnahme der drei blinden Passagiere gehört.« »Sind das auch deutsche Spione?« »Ich weiß es nicht. Wir wurden nicht davon in Kenntnis gesetzt, dass sie an Bord sind. Sie verstehen, dass ich deswegen umso vorsichtiger sein musste.« »Aber …« Alexander legte ihr den Zeigefinger auf den Mund. »Hören Sie mir jetzt genau zu. Sobald wir in wenigen Stunden die Irische See erreicht haben, wird es eine Explosion an Bord geben. Wir werden die Verwirrung nutzen und Sie von Bord bringen.« »Eine Explosion? Werden Menschen dabei getötet?« »Sorgen Sie sich nicht. Keinem wird etwas geschehen. Wenn Sie die Detonation hören, ziehen Sie diese Sachen hier an.« Alexander griff unter den Teewagen und holte ein Paket hervor. »Aber mein Mann …« »Ich habe ihm etwas in seinen Drink gemischt. Ich werde dafür sorgen, dass man ihn ins Lazarett bringt und er vor unserer Ankunft in Liverpool nicht wieder herauskommt.« »Was …« »Keine Sorge. Ihm wird nur fürchterlich schlecht sein, und die Nierenschale wird für die nächsten zwölf Stunden zu seinem besten Freund.« »Ich werde Thomas nicht wiedersehen?« »Nein! Nicht hier an Bord. Wollen Sie das denn überhaupt, ich dachte …« »Ich weiß es doch selbst nicht. Er war so gut zu mir.« »Wir dürfen jetzt keine Fehler machen. Sobald wir in Deutschland sind, werden wir herausfinden, wo er ist. Dann können Sie zu ihm.« »Und was sage ich ihm dann?« »Erzählen Sie ihm, dass Sie auf dem Weg ins Lazarett durch die Explosion von Bord geschleudert und von einem dänischen Fischkutter gerettet wurden. Es darf jetzt nichts mehr schiefgehen. Sie bleiben so lange in Ihrer Kabine, bis ich Sie hier abhole. Haben Sie das verstanden?« Sie nickte. Ihr war kalt. »Aber wie erkläre ich das gestohlene Paket, wenn ich Thomas wiedersehe?« »Geben Sie mir die Schuld. Sagen Sie, ich hätte es entwendet. Ich bin der Einzige, der wusste, was sich in dem Safe befand, und der Ihrem Mann zu Beginn der Reise gezeigt hat, wie man die Kombination einstellt.« »Das soll er mir glauben?« »Er wird keinen Verdacht schöpfen. Ich habe zur Ablenkung noch einige andere Tresore geplündert. Mich wird er nie wieder sehen. Ich bleibe in Deutschland, wenn alles vorüber ist.« Lærkes Atem wurde ruhiger. »Und das viele Geld?« »Ganz einfach: Sie haben eine Erbschaft in Ihrer Heimat Dänemark gemacht. Damit wollten Sie ihn überraschen.« Hätte sie nur früher mit Alexander sprechen können. All die Gedanken, Fragen und Ängste, die sie in den letzten Tagen quälten, lösten sich mit einem Mal in Luft auf. Nach einem kurzen Moment der Überlegung wurde sie nahezu euphorisch und fasste neuen Mut. »Gut, so kann es funktionieren.«

PROLOG PIER 54, NEW YORK CITY 1. MAI 1915

RMS_Lusitania

Die mit Tausenden von Nieten besetzte Stahlwand erhob sich wie ein Wolkenkratzer über dem Kopf von Lærke und Thomas Bennet. Das Weiß der Decksauf bauten verschwamm mit dem Nebel, der den Hudson-River hinaufzog. So, als schwebe die Lusitania in einem Wolkenmeer. Lærke war unbehaglich zumute, wie sie mit Thomas dastand und auf diesen aus Stahl gegossenen Hochmut blickte, mit dem die Industriegesellschaft einfache Menschen wie sie zu verhöhnen schien. In der wogenden Menschenmenge am Pier fühlte sie sich, als würde sie im Sturm der Zeitgeschichte hin und her geworfen. Die einzige Person, die sie schützen konnte, war ausgerechnet der Mensch, den sie in Kürze verraten sollte.   ACHTUNG! Reisende, die eine Schiffsreise über den Atlantik antreten, werden darauf hingewiesen, dass sich Deutschland und seine Verbündeten mit Grossbritannien und dessen Verbündeten im Krieg befindet. Das Kriegsgebiet umfasst auch die Gewässer um die britischen Inseln. Laut einer offiziellen Mitteilung der kaiserlich-deutschen Regierung laufen Schiffe, die unter der Flagge Grossbritanniens oder einer seiner Verbündeten fahren, Gefahr, in diesen Gewässern angegriffen und zerstört zu werden. Wer auf Schiffen Grossbritanniens oder einer seiner Verbündeten reist, tut dies auf eigenes Risiko. GEZ. KAISERLICH-DEUTSCHE BOTSCHAFT, WASHINGTON, D.C., APRIL 22nd 1915   Ein Zeitungsjunge brüllte diese Meldung aus der New York Times immer und immer wieder heraus. Mitarbeiter der Cunard Line kamen auf Lærke und Thomas zu, gefolgt von einer Schar sensationslustiger Reporter und Fotografen. »Lass uns gehen, Thomas!« Thomas nahm Lærke an die Hand, und sie eilten los zur Gangway für die erste Klasse. Über ihre Köpfe hinweg schwebten massive Holzkisten an den Ladekränen. »Schau Lærke, in einer von denen ist bestimmt auch meine Laborausrüstung. Wenn wir zurückkehren, habe ich genügend Geld, und wir kaufen uns ein Automobil. Damit fahren wir dann an den Wochenenden zu den schönsten Badeorten der Ostküste.« Sie folgte den Kisten mit ihren Augen – und erschrak. Es war, als schnüre ihr jemand die Kehle zu. Oben an der Reling stand ihre Kontaktperson und blickte auf sie herab. Lærke zögerte. Am liebsten hätte sie Thomas alles gebeichtet, ihn gegriffen und wäre mit ihm zurück in ihr bescheidenes Heim geflüchtet. Sobald sie auf dem Schiff waren, würde es zu spät sein. Im Grunde genommen war es das bereits. Sie konnte sich ihm jetzt unmöglich noch anvertrauen. Er würde es nicht verstehen. »Komm, wir holen uns die Schlüssel zu unserer Kabine, du wirst Augen machen«, sagte Thomas. Am Empfang ging alles erstaunlich zügig, der Vorteil eines Erste-Klasse-Tickets. Hinter dem aus schwerem Mahagoniholz gearbeiteten Empfang mit kunstvoll geschmiedeten Messingverzierungen begrüßte sie der Chefstewart in einem tadellos aufgebügelten und gestärkten weißen Jackett. »Herzlich willkommen an Bord der Lusitania, Mr Bennet. Mrs Bennet. Sie haben einen First Class State Room Deluxe gebucht, Sir?« »Das ist richtig.« Lærke merkte ihrem Mann an, dass er sich nicht ganz so sicher fühlte, wie er sich gab. Ihm fehlte die lässige Arroganz der Reichen, die sich täglich auf derart prunkvollem Terrain bewegten, und wie sie es in den Vorzimmern des Bankhauses, in dem sie arbeitete, erlebt hatte. Besser gesagt, ertragen musste. »Ich habe eine Frage. In dem Zimmer befindet sich doch ein Safe, oder?« »Ja Sir, wie von Ihnen bestellt. Sollte die Größe nicht ausreichen, können Sie Wertgegenstände gern bei unserem Zahlmeister abgeben.« Lærke spürte die Blicke des Concierge auf sich. Offenbar fand er nicht, wonach er suchte. Keine kostbaren Colliers oder anderen Schmuck, und auch das Kleid war wie der Anzug ihres Mannes von minderer Qualität. Das Unbehagen in ihr wuchs von Minute zu Minute. »Was kostet das Zimmer?«, flüsterte sie Thomas zu. »400 Dollar, und man nennt es Kabine, meine Liebste.« »400 Dollar? Das ist fast ein Jahreslohn.« »Nicht mehr lange, meine Liebe. Für wen sollte ich mein Erspartes ausgeben, wenn nicht für meine wunderschöne Frau?« Lærke fuhr zusammen, als sie den Mann von der Reling neben sich bemerkte. Ein Hüne, der bestimmt zwei Meter maß, hatte wortlos neben den beiden Position bezogen. Thomas’ aufgesetztes Selbstbewusstsein bröckelte, und er fragte mit nervöser Stimme: »Kann ich Ihnen helfen?« »Zu Ihren Diensten, Sir. Mein Name ist Alexander. Ich bin Ihr Stewart. Wenn Sie mir den Gepäckschein und die Zimmerschlüssel aushändigen, lasse ich die Koffer in Ihre Kabine bringen. Möchten Sie mir schon einmal Ihre Aktentasche geben, Sir?« »Nein! Nein, die trage ich selbst …« Alexander blickte über die Schulter und schnippte zweimal mit den Fingern. Ein Page, kaum älter als vierzehn Jahre, kam herbeigeeilt und nahm den Gepäckschein entgegen. »Möchten Sie ein Glas Champagner?«, fragte der Stewart. »Bitte, bedienen Sie sich. Ein Willkommensgruß der Cunard Line.« Minuten später schwang die Tür zu ihrer Suite auf. »Mein Gott, die Kabine ist ja größer als unsere Wohnung.« »Wo finde ich den Safe, Alexander?« »Dort drüben am Schreibtisch, Mr Bennet.« Lærke löste sich vom Arm ihres Mannes und durchquerte das Wohnzimmer mit dem angeschlossenen Essraum, das Schlaf-, das Ankleide- und Badezimmer. Sie ließ die Hand über die Badewanne gleiten und konnte dem Drang nicht widerstehen, den Warmwasserhahn aufzudrehen und die Toilettenspülung zu betätigen. Alles war so elegant, so neu, so … »Mrs Bennet, Sie tun das Richtige.« Alexander griff nach ihrer Hand und drückte sie sanft. »Sie schaffen das! Lassen Sie mich wissen, wenn niemand in Ihrer Nähe ist. Verlangen Sie nach mir persönlich. Sie erhalten dann weitere Instruktionen.« Lærke konnte seinem Blick nicht standhalten. Sie wischte sich eine Träne aus dem Auge und warf einen Blick über ihre Schulter zu Thomas. Der beschäftigte sich immer noch mit dem Safe. »Wie funktioniert das Ding hier?« »Ich bin sofort bei Ihnen, Sir.« Alexander schwang herum und ging auf Thomas zu. »Möchten Sie die im Safe deponieren?« Er machte eine Handbewegung in Richtung der Aktenmappe. Thomas wich einen Schritt zurück. »Danke, das mach ich selbst. Erklären Sie mir einfach, wie ich die Kombination einstelle.« Nun gib ihm doch einfach die verdammte Tasche, hätte Lærke ihn am liebsten angeschrien. Ihre Hände ballten sich zu einer Faust. Sie presste ihre frisch manikürten Nägel fest in die zarte Haut ihrer Handballen. Es half. Der Schmerz lenkte sie ab. Thomas bekam von alldem nichts mit. Er drückte Alexander einen Silberdollar in die Hand und wies ihm die Tür. »Danke, Alexander.« »Ich danke Ihnen, Sir. Wenn Sie etwas brauchen, Sir, ich stehe jederzeit gern zu Ihrer Verfügung.« Der mögliche Kriegseintritt der USA und die lauernde Gefahr durch deutsche U-Boote waren überall an Bord das Thema Nummer eins. Natürlich auch bei den Offizieren. Nur der Kapitän wusste, dass ihre Befehle nicht mehr von der Reederei, sondern direkt von der englischen Admiralität kamen. Kapitän William Thomas Turner schritt auf die Brückennock und ließ seinen Blick über das Vordeck der Lusitania schweifen. Genau genommen war er jetzt Kommandant eines Kriegsschiffes, eines Hilfskreuzers. Er sah auf den Funkspruch in seiner Hand. »Mr Bestic, berechnen Sie den Kurs zum Fastnet-Felsen an der Südwestecke Irlands. Dort erreichen wir Kriegsgewässer und werden von dem Kreuzer Juno nach Liverpool eskortiert.« »Was sagen Sie zu der Anzeige in der New York Times, Sir? Meinen Sie, dass sie als eine Warnung für unser Schiff zu verstehen ist?« »Die Deutschen rasseln nur mit den Säbeln. Selbst wenn sie es auf uns abgesehen haben, sind wir viel zu schnell für die. Leinen los, Mr Jones. Schicken Sie sie auf See.«   IRISCHE SEE 7. MAI 1915   Lærke hatte bereits beim Lunch davon gehört. Der Schiffsdetektiv William Pierpont nahm kurz nach der Abfahrt drei blinde Passagiere fest. Man munkelte, sie seien deutsche Spione. Da sie sich weigerten, nähere Auskünfte zu erteilen, sperrte man sie in eine Kabine in den unteren Decks. Das sprach sich herum, und die Gefahr schien nunmehr nicht nur in der dunklen See zu lauern, sondern auch unter den Passagieren an Bord. Angst und Verunsicherung wuchsen. Besonders bei Lærke selbst. Sie war Alexander zwar einige Male begegnet, doch der schien sie überhaupt nicht zu sehen, geschweige denn mit ihr reden zu wollen. Sie hatte nicht die geringste Ahnung, wann und wie man sie und die Dokumente von Bord schaffen würde. Thomas, der sonst nicht von Lærkes Seite wich, betrat den Smoking Room und setzte sich an einen freien Tisch. »Mr Bennet, Sir. Darf ich Ihnen etwas bringen?« »Alexander, schön Sie zu sehen. Ja, ich möchte einen Scotch.« »Gern. Mit Soda?« »Ja bitte. Noch eins, meine Gattin fühlt sich nicht wohl. Könnten Sie ihr bitte einen Tee und ein wenig Zwieback aufs Zimmer bringen? Danke.« »Selbstverständlich, Sir. Ich hoffe, es ist nichts Ernstes.« »Nein, nur eine kleine Magenverstimmung.« »Ich werde mich persönlich darum kümmern, Sir.« Alexander mixte Thomas einen Uam Var mit Soda und Eis. Nach einem Umweg über die Küche stand er nun mit dem Teewagen vor der Kabinentür der Bennets. Er klopfte zweimal an die Tür. »Ihr Tee, Madam!« Unter Tausenden würde Lærke diesen Bariton mit dem näselnden britischen Akzent wiedererkennen. Sie warf sich einen Morgenmantel über und öffnete die Tür einen Spalt. Alexander schob sich hindurch. »Geht es Ihnen gut, Mrs Bennet?« »Ob es mir gut geht? Ich warte seit Tagen auf eine Nachricht von Ihnen.« »Sie haben bestimmt von der Festnahme der drei blinden Passagiere gehört.« »Sind das auch deutsche Spione?« »Ich weiß es nicht. Wir wurden nicht davon in Kenntnis gesetzt, dass sie an Bord sind. Sie verstehen, dass ich deswegen umso vorsichtiger sein musste.« »Aber …« Alexander legte ihr den Zeigefinger auf den Mund. »Hören Sie mir jetzt genau zu. Sobald wir in wenigen Stunden die Irische See erreicht haben, wird es eine Explosion an Bord geben. Wir werden die Verwirrung nutzen und Sie von Bord bringen.« »Eine Explosion? Werden Menschen dabei getötet?« »Sorgen Sie sich nicht. Keinem wird etwas geschehen. Wenn Sie die Detonation hören, ziehen Sie diese Sachen hier an.« Alexander griff unter den Teewagen und holte ein Paket hervor. »Aber mein Mann …« »Ich habe ihm etwas in seinen Drink gemischt. Ich werde dafür sorgen, dass man ihn ins Lazarett bringt und er vor unserer Ankunft in Liverpool nicht wieder herauskommt.« »Was …« »Keine Sorge. Ihm wird nur fürchterlich schlecht sein, und die Nierenschale wird für die nächsten zwölf Stunden zu seinem besten Freund.« »Ich werde Thomas nicht wiedersehen?« »Nein! Nicht hier an Bord. Wollen Sie das denn überhaupt, ich dachte …« »Ich weiß es doch selbst nicht. Er war so gut zu mir.« »Wir dürfen jetzt keine Fehler machen. Sobald wir in Deutschland sind, werden wir herausfinden, wo er ist. Dann können Sie zu ihm.« »Und was sage ich ihm dann?« »Erzählen Sie ihm, dass Sie auf dem Weg ins Lazarett durch die Explosion von Bord geschleudert und von einem dänischen Fischkutter gerettet wurden. Es darf jetzt nichts mehr schiefgehen. Sie bleiben so lange in Ihrer Kabine, bis ich Sie hier abhole. Haben Sie das verstanden?« Sie nickte. Ihr war kalt. »Aber wie erkläre ich das gestohlene Paket, wenn ich Thomas wiedersehe?« »Geben Sie mir die Schuld. Sagen Sie, ich hätte es entwendet. Ich bin der Einzige, der wusste, was sich in dem Safe befand, und der Ihrem Mann zu Beginn der Reise gezeigt hat, wie man die Kombination einstellt.« »Das soll er mir glauben?« »Er wird keinen Verdacht schöpfen. Ich habe zur Ablenkung noch einige andere Tresore geplündert. Mich wird er nie wieder sehen. Ich bleibe in Deutschland, wenn alles vorüber ist.« Lærkes Atem wurde ruhiger. »Und das viele Geld?« »Ganz einfach: Sie haben eine Erbschaft in Ihrer Heimat Dänemark gemacht. Damit wollten Sie ihn überraschen.« Hätte sie nur früher mit Alexander sprechen können. All die Gedanken, Fragen und Ängste, die sie in den letzten Tagen quälten, lösten sich mit einem Mal in Luft auf. Nach einem kurzen Moment der Überlegung wurde sie nahezu euphorisch und fasste neuen Mut. »Gut, so kann es funktionieren.«